1814: Politische Restauration und Abtrennund der schweizerischen Quart vom Bistum Konstanz
1. Die Vorahnungen
Das Jahr 1814 brachte zwei Ereignisse, die die Situation in Luzern und in der Eidgenossenschaft grundlegend veränderten. Sie standen beide im Zusammenhang mit dem Sturz Napoleons, des „Mediators der Schweiz“:
1. die politische Restauration der Kantone und des Bundes der Eidgenossenschaft;
2. die Abtrennung der schweizerischen Gebiete vom Bistum Konstanz.
Obwohl an sich voneinander ganz verschieden, waren beide Vorgänge eng miteinander verflochten. Die Entwicklung, die dahin führte, wird deutlich in den Äusserungen des staats-kirchlich-liberal und revolutionär-demokratisch gesinnten Schultheissen Heinrich Krauer. Er hatte 25. August 1809 eine Schrift verfasst mit dem Titel: „Warnung gegen falsche Ausstreuungen in Religionssachen“. Es ging um Gerüchte über „Büchlein, nach welchen im Kanton verschiedene Abänderungen in Religionssachen vorgenommen werden sollten“. Alle Geistlichen und weltlichen Beamten wurden aufgefordert, entsprechende Beobachtungen und verdächtige Personen der Regierung und der Polizei anzuzeigen. Zudem ging es um heimliche Abschriften von päpstlichen Breven, die unter der Hand weitergegeben würden. Kommissar Müller doppelte nach: „... Der Geistliche, welcher sogar das Ansehen des Bischofs und der weltlichen Obrigkeit herabsetzt, ist ein treuloser Mann, der seinem Berufe zur Schande gereicht, und wirklich nicht länger verdient, an einer öffentlichen Stelle zu bleiben.“
Bei den „Abänderungen in Religionssachen“ ging es wohl um heimliche Bemühungen zur Ausschaltung des Einflusses von Wessenberg und Thaddäus Müller auf dem Weg der Loslösung der schweizerischen Gebiete vom Bistum Konstanz. Die Warnung zeigt nicht nur das Misstrauen der Regierung gegenüber dem Volk, sondern auch des Volkes gegenüber der weltlichen und geistlichen Regierung. Nicht umsonst war die Regierung daran, das Polizeiwesen stark auszubauen.
Wenig später, am 4. Oktober 1809, äusserte Amtsschultheiss Krauer in der Eröffnungsrede der ordentlichen Grossen Ratssitzung Vermutungen über schwerwiegendes hintergründiges Treiben. Ferner verteidigte er das Vorgehen der Luzerner Regierung gegen den Abt von St. Urban, das internationales Aufsehen erregt hatte. Zum Schluss der Rede erklärte er: „Schwerlich werden die vereinten Versuche der Freunde des Obskurantismus und der alten Ordnung den Gang der grossen Ereignisse hemmen, die Europa eine neue Gestalt zu geben unaufhaltbar aufeinander folgen. Wir aber, denen die Vorsehung bei diesem blutigen Kampfe das seltene Glück verlieh, bloss ferne Zuschauer zu sein, verkennen diese Wohltat nicht, und bleiben unerschütterlich treu der Vermittlungsakte, die uns vom Bürgerkrieg gerettet, und treu dem Bündnisse, das wir so feierlich geschlossen haben.“
Dreieinhalb Jahre später, am 7. April 1813, rühmte Amtsschultheiss H. Krauer den heldenhaften Kampf der Schweizer Regimenter im Russlandfeldzug. Er kam dann ausführlich auf den „Dereser Handel“ zu sprechen. Dereser war ein Theologieprofessor in Luzern, der von der Regierung gestützt, vom gläubigen Volk aber abgelehnt wurde. Krauer sagte: „Wenn man bedenkt, dass ähnliche Auftritte in den letzten Zeiten auch auf ausländischen Schulen statt gehabt haben..., so ist es eben nicht unwahrscheinlich, dass eine unbekannte Hand sich der aufgeregten Leidenschaften bedient, um geheime Triebfedern in Bewegung zu setzen; dass gewisse Parteigenossen über den Verfall des Glaubens schreien, um ihre Pläne desto besser unter dem Vorwand der Religion zu verbergen und in der eifernden Partei fanatische Anhänger zu finden; dass daher die hier ausgebrütete Verketzerungsgeschichte nur der Deckmantel eines schlau angelegten Planes ist. Es mag sein, dass die theologische Fehde aus persönlichen Verhältnissen hervorgegangen ist: allein das hindert nicht, dass diejenigen, die öffentlich auftreten, nicht meistens Werkzeuge einer noch im Finstern herrschenden Partei sind; einer Partei, die auf das religiöse Gefühl Unseres Volkes zu wirken sucht. Die zur Schwärmerei gestimmten Köpfe der Jünglinge muss das Schreckbild des Falschglaubens noch mehr überspannen. Die schüchternen Gewissen, besonders die des andächtigen Geschlechts, werden beängstigt, und diese beängstigen wieder andere. Selbst Männer, die nach den flüchtigen Begriffen des Augenblicks gestimmt werden, ergreift hier und dort der Feuereifer des Fanatismus. Das alles ist begreiflich; auffallend ist es aber, und es gehört zur Charakteristik unserer Tage, dass von einem Übel, das sich aus den finstern Jahrhunderten herschreibt, Leute befallen sind, die sich unter die Gebildeten des Zeitalters zählen und auf eine liberale Denkungsart Anspruch machen; dass Leute, die erst noch die höchste Duldsamkeit anpriesen und nichts weniger als im Rufe der Gottseligkeit standen, jetzt Ketzer wittern und die Rolle der Andächtler spielen; dass andere unverhofft von der wissenschaftlichen Höhe herabsteigen, und ihre Stimmen mit den Klagetönen der Idioten vereinigen... Übrigens wird der Kleine Rat die Religion unserer Väter, kraft der Gewalt, die zum Schutz derselben die Verfassung in seine Hände gelegt hat, — was immer für Gerüchte die Übelgesinntheit unter das Volk ausstreuen mag, — mit ruhiger Entschlossenheit aufrecht erhalten.“
Meinte Krauer mit den Leuten, „die sich unter die Gebildeten des Zeitalters zählen und auf eine liberale Denkungsart Anspruch machen“, die aufgeklärten Priester, die sich immer mehr von Thaddäus Müller abwandten? Meinte er mit den „andern, die unverhofft von der wissenschaftlichen Höhe herabsteigen, und ihre Stimmen mit den Klagetönen der Idioten vereinigen“, die Professoren Gügler und Widmer? Diese damals führenden Theologieprofessoren in Luzern waren unter dem Einfluss des frommen Bauern Niklaus Wolf wieder viel stärker mit dem kirchlichen Geist erfüllt worden. Waren mit den „Leuten, die erst noch die höchste Duldsamkeit anpriesen und nichts weniger als im Rufe der Gottseligkeit standen, [und die] jetzt Ketzer wittern und die Rolle der Andächtler spielen“ Niklaus Wolf und seine Beter anvisiert? — Jedenfalls war Krauer davon überzeugt, dass „der Kleine Rat die Religion unserer Väter... mit ruhiger Entschlossenheit aufrecht erhalten“ werde.
Krauer, der Bürger von Rothenburg (Nachbargemeinde von Neuenkirch) war und mit Niklaus Wolf in der Nationalversammlung sass, hatte doppelten Grund, sich von der politischen und von der religiösen Seite her durch eine „noch im Finstern herrschenden Partei“ bedroht zu fühlen. Bei einem Sieg der verbündeten Mächte über die Armeen Napoleons war damit zu rechnen, dass die Aristokraten ihre alten Privilegien restaurierten und der Bischof von Konstanz seinen Beschützer, nämlich Napoleon, verlöre. Krauer könnte dann nicht mehr Schultheiss bleiben, und seine liberal-staatskirchliche Einstellung würde zurückgedrängt.